Ernst von Wildenbruch: Weihnacht


Wir hoffen, daß Sie die Sorgen und Nöte unseres Volkes für ein paar Tage vergessen können, um wieder neue Kraft zu tanken. Mit diesem Gedicht von Ernst von Wildenbruch wollen wir allen unseren Freunden, Mitstreitern und Sympathisanten ein frohes Weihnachtsfest im Kreise der Familie wünschen.  

Weihnacht

Die Welt wird kalt, die Welt wird stumm,
Der Winter-Tod zieht schweigend um;
Er zieht das Leilach weiß und dicht
Der Erde übers Angesicht –
Schlafe – schlafe.

Du breitgewölbte Erdenbrust,
Du Stätte aller Lebenslust,
Hast Duft genug im Lenz gesprüht,
Im Sommer heiß genug geglüht,
Nun komme ich, nun bist du mein,
Gefesselt nun im engen Schrein –
Schlafe – schlafe.

Die Winternacht hängt schwarz und schwer,
Ihr Mantel fegt die Erde leer,
Die Erde wird ein schweigend Grab,
Ein Ton geht zitternd auf und ab:
Sterben - sterben.

Da horch – im totenstillen Wald
Was für ein süßer Ton erschallt?
Da sieh – in tiefer dunkler Nacht
Was für ein süßes Licht erwacht?
Als wie von Kinderlippen klingts,
Von Ast zu Ast wie Flammen springts,
Vom Himmel kommts wie Engelsang,
Ein Flöten- und Schalmeienklang:
Weihnacht! Weihnacht!

Und siehe – welch ein Wundertraum:
Es wird lebendig Baum an Baum,
Der Wald steht auf, der ganze Hain
Zieht wandelnd in die Stadt hinein.
Mit grünen Zweigen pocht es an:
„Tut auf, die sel'ge Zeit begann,
Weihnacht! Weihnacht!“

Da gehen Tür und Tore auf,
Da kommt der Kinder Jubelhauf,
Aus Türen und aus Fenstern bricht
Der Kerzen warmes Lebenslicht.
Bezwungen ist die tote Nacht,
Zum Leben ist die Lieb erwacht,
Der alte Gott blickt lächelnd drein,
Des laßt uns froh und fröhlich sein!

Weihnacht! Weihnacht!

Ernst von Wildenbruch (1845-1909)
 
 

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